Die Melodie der Geister by Xavier-Marie Bonnot
Autor:Xavier-Marie Bonnot [Bonnot, Xavier-Marie]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Ethnologie, Frankreich, Kriminalroman, Kunsthandel, Marseille, Masken, Papua-Neuguinea, Spannung
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-11-23T16:00:00+00:00
16
Dr. Bernheim war einer der besten psychiatrischen Sachverständigen am Berufungsgericht Aix-en-Provence. Als er de Palma erblickte, rückte er sich die Silberrandbrille auf der schmalen Nase zurecht und winkte freundlich. Der Arzt war ein Schlaks mit zu langen Armen, Typ Gottesanbeterin mit Kurzhaarschnitt, mit einem versöhnlichen Blick im sympathischen Gesicht und sinnlichen Lippen.
»Michel de Palma, nehme ich an?«
»Sie nehmen richtig an«, erwiderte der Baron lächelnd. »Wir sind uns schon mal begegnet.«
»Ja, stimmt, hier im Gericht. Kommen Sie mit. Heute haben die mir ganz schön zugesetzt.«
»Es ging um einen Kindermörder, oder?«
»Ja. Und sein Dummkopf von Anwalt wollte von mir, dass ich seinen Klienten für verrückt erkläre. Was soll man da sagen?«
»Es sollte um Verantwortung gehen, und nicht um Wahnsinn.«
»Da haben Sie recht, Monsieur de Palma. Aber Sie kennen ja die Anwälte …«
Ein Gerichtsschreiber in schwarzer Robe ging mit einem dicken Aktenbündel unter dem Arm durch die Wandelhalle. Ein paar Journalisten plauderten freundschaftlich. Bernheim und de Palma gingen hinaus.
»Trinken wir doch ein Glas zusammen. Drüben im Hotel Roi René.«
Auf dem Platz draußen, gegenüber den strengen Säulen und dem grauen Giebel des früheren Justizpalasts, wurde ein Markt abgehalten. Die beiden Männer setzten sich in der Bar an einen Tisch.
»Bitte schön, Totem und Tabu von Sigmund Freud«, sagte Bernheim und legte eine billige Taschenbuchausgabe davon auf den Tisch. »Das Objekt Ihrer Pein. Als Sie mich gestern angerufen haben, habe ich gleich danach gesucht. Es lag bei mir im Keller. Die Stelle habe ich auch gefunden.«
Die Seite war mit einem blauen Post-it markiert. »Das ist doch die Stelle, die Sie erwähnt haben?«
»Ja.«
Der Psychiater sah den Baron eindringlich an.
»Totem und Tabu hat seinerzeit eine riesige Polemik ausgelöst«, sagte er mit dandyhafter Mimik. »Man stellte sich damals die grundsätzliche Frage nach der Universalität der Psychoanalyse und ihrer Konzepte. Ödipus, das funktioniert bei uns, aber bei Afrikanern, Chinesen oder bei den Indianern im hintersten Amazonas ist das wieder ganz etwas anderes.«
»Freud spricht von einer ›Urhorde‹, was bedeutet das genau?«
Bernheim stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und sammelte seine Gedanken.
»Das ist eine imaginäre Menschengruppe unter der Fuchtel eines allmächtigen Vaters, der es als Einziger mit den Frauen der Horde treiben darf.«
Er legte den Zeigefinger auf die Tischplatte und zeichnete damit einen Kreis.
»Die Söhne sind auf den Vater eifersüchtig und möchten die Frauen besitzen. So lehnen sie sich auf und töten den Vater.«
»Und sie essen ihn sogar!«
»Ja, das führt dann zur Totemmahlzeit.«
»Was bedeutet das?«
»Nun, nachdem die Söhne den Vater aufgegessen haben, packt sie die Reue. Deshalb fertigen sie zu seinen Ehren – und vor allem aus Angst vor seiner Rache – ein Totem nach seinem Bild. Und sie stellen Regeln auf, wie das ja immer geschieht.«
»Was für Regeln?«
Bernheim faltete die Hände vor dem Mund.
»Die zwei Haupttabus: Inzest und Vatermord. Das Verbot, es mit den Frauen des eigenen Totems zu treiben, und das Verbot, zu töten.«
Der Kellner kam, ein kurz geratener Mensch mit aufgekrempelten Ärmeln und einem blasierten Gesicht. Bernheim bestellte einen Kaffee, de Palma ein Mineralwasser.
»Freud macht sich Gedanken«, fuhr Bernheim fort. »Er fragt sich, warum Mord und Inzest so unbedingt verboten werden.
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